(for English version see here)
Sommersemester 2025
Eine Einführung in die interkulturelle Philosophie zu geben, bedeutet, unweigerlich auf die Herausforderung zu stoßen, einer überwältigenden Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Traditionen gegenüberzustehen. Also wie kann von Kernthemen der interkulturellen Philosophie gesprochen werden, wenn es ein endloses Sammelsurium an Kenntnissen oder Expertisen mehrerer Traditionen braucht, um das Inter in interkultureller Philosophie überhaupt zu ermöglichen. Dieser Umstand eröffnet zwar ein riesiges und inklusives Feld zum Philosophieren, macht jedoch interkulturelles Philosophieren zu einem schwer zugänglichen Bereich für Studierende. Daher trägt folgende Reihe auch den Namen „Kernthemen in interkultureller Philosophie“ und nicht „Die Kernthemen der interkulturellen Philosophie“, da es nicht das Ziel sein kann, den Begriff der interkulturellen Philosophie erschöpfend und final zu definieren. Es kann jedoch versucht werden, durch das Auswählen bestimmter Kernthemen ein Tor aufzustoßen, welches das breite Feld der interkulturellen Philosophie zugänglich macht.
Ziel dieser Workshopreihe ist es daher, Studierenden der Universität Wien und anderen Interessierten einen Zugang zu diversen außereuropäischen philosophischen Traditionen zu bieten. So soll anhand von gemeinsamer Textlektüre und -bearbeitung sowie einem einleitenden Vortrag ein Einstieg in die interkulturelle Philosophie geboten werden, der Teilnehmer*innen aktiv engagieren soll. Unter der Koordination der Initiative „Young WiGiP“ soll diese Reihe insbesondere Studierende ohne Vorwissen der jeweiligen Traditionen oder der interkulturellen Philosophie als solche ansprechen.
Um das zuvor genannte Inter wieder heranzuziehen, soll in den Sitzungen des Workshops immer eine Spannung oder Synergie zwischen einem Bereich und einer Tradition ausgeschöpft werden. Hans Schelkshorn wird eine Einführung in die Lateinamerikanische Philosophie mit Rücksicht auf die Diskurstheorie bieten. Dem entgegengesetzt wird Graham Parkes den Raum zwischen Umweltphilosophie und chinesischer Philosophie ergründen. Zuletzt wird Fabian Völker eine Einführung in die Indische Philosophie vor dem Hintergrund der Religionsphilosophie bieten.
Koordination: Pius Huber & Kassian Mitterer
TERMINE
Univ.-Prof. Dr. Dr. Johann Schelkshorn (Universität Wien, Österreich): Einführung in die Lateinamerikanische Philosophie
Die Philosophie Lateinamerikas stellt keine einheitliche Denktradition dar, sondern spaltet sich in zumindest vier heterogene Strömungen auf: eine Debatte kreist um die Frage der "Philosophie" der amerindischen Kulturen; seit dem 16. Jahrhundert gibt es eine Geschichte der europäischen Philosophie im südlichen Amerika; zugleich haben sich seit der Kolonialzeit auch neue indigene Denktraditionen gebildet. Und seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Strömung einer "filosofía americana" konstituiert, die im 20. Jahrhundert in den "Philosophien der Befreiung" und post- bzw. dekolonialen Denkansätzen kreative Fortführungen gefunden hat.
Es wird der Text „Unser Amerika“ von José Martí behandelt.
Graham Parkes (Universität Wien, Österreich): Wie kann die Ökokrise bewältigt werden: Ein interkulturell-philosophischer Ansatz
Menschliche Aktivitäten – insbesondere der Konsumismus – zerstören nicht nur das Klima, sondern auch die Biosphäre. Selbst wenn wir die Klimakrise morgen auf magische Weise lösen könnten, würde der kapitalistische Imperativ des ständigen Wirtschaftswachstums – das die fortlaufende Auslaugung der Böden, die Verschmutzung von Erde und Luft, die Abholzung der Wälder, die Überfischung der Meere, die Zerstörung von Lebensräumen sowie das Artensterben und den Verlust der Biodiversität mit sich bringt – weiterhin große Teile des Planeten unbewohnbar machen. Und solange wir den status quo beibehalten, wird die zunehmende Last auf die Erde schließlich das Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, herbeiführen. Doch wenn wir in den wohlhabenderen Nationen unser Verhalten radikal und schnell ändern, um das Schlimmste zu verhindern, könnten wir möglicherweise auch erfüllender Lebensweisen entdecken.
Aus philosophischer Perspektive liegt die Wurzel unserer aktuellen Krise in einem weit verbreiteten Missverständnis darüber, wer wir als Menschen auf diesem Planeten sind – nämlich als grundsätzlich freie und unabhängige Individuen, die anderen Lebewesen überlegen sind und zu ihrer Beherrschung berechtigt. Da dieses Verständnis relativ neu und ziemlich provinziell ist (es stammt aus dem modernen Nordeuropa), können interkulturell-philosophische Ansätze alternative und erhellende Perspektiven auf unser Selbstverständnis bieten – beispielsweise als radikal voneinander abhängige Teilnehmer naturellen Prozessen. Tatsächlich wurde diese Form des Selbstverständnisses von den meisten menschlichen Kulturen seit ihren Anfängen geteilt – zumindest bis die Moderne die Welt zu eroberte.*
Der erste Schritt zur Abwendung des Schlimmsten besteht vermutlich darin, Menschen aufzuklären, die sich der Ernsthaftigkeit unserer ökologischen Krise nicht bewusst sind – eine herausfordernde Aufgabe, da der größte Verursacher des Problems (die USA) ein gewaltiges Desinformationssystem aufbaut, um dies gezielt zu verschleiern. Und da ein Wandel unseres Selbstverständnisses – weg vom Bild unabhängiger Individuen hin zu einer Wahrnehmung als miteinander verbundene Teilnehmer – nicht über Nacht geschehen wird, wird sich der zweite (Diskussion) Teil des Workshops mit der Frage befassen: Wie kann die interkulturelle Philosophie dazu beitragen, die Art von globaler sozialer Bewegung zu mobilisieren, die notwendig ist, um die persönlichen und politischen Veränderungen herbeizuführen, die nötig sind, um das Leid zu minimieren und sich an wohltuender Wege der Lebensführung zu erfreuen?
*Eine umfassende Diskussion dazu findet sich in den Kapiteln 7 und 8 meines Buches How to Think about the Climate Crisis (PDF verfügbar auf grahamparkes.net) oder im Essay „Can Humanity Survive the Anthropocene?“ (unter „Essays“ auf grahamparkes.net).
Es wird der Text „Can Humanity Survive the Anthropocene“ von Graham Parkes behandelt.
Univ.-Assistent post doc Dr. Fabian Völker (Universität Wien, Österreich): Indische Philosophie - Śaṅkaras Lehre des Advaita-Vedānta
Die Erinnerung an den „verehrungswürdigen Meister Śaṅkara" (zw. 650–800 n. Chr) wird im Kulturbewusstsein Indiens durch eine stetig wachsende Anzahl an Comics, Theaterstücken, Fernsehserien und Filmen sowie zuletzt eine knapp 33 Meter hohe Statue lebendig gehalten, die am 21. September 2023 in Omkareshwar im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh eingeweiht wurde. Wer war dieser Mann und worin besteht seine radikale Philosophie der „Nicht-Zweiheit" (a-dvaita), die über 1000 Jahre lang einen so nachhaltigen Eindruck auf das indische Selbstverständnis ausüben konnte und das indische Denken bis in die Gegenwart hinein geprägt und beeinflusst hat? Nach einer allgemeinen Einführung in die Grundlagen des Hinduismus und der indischen Philosophie vergegenwärtigen wir uns Leben und Lehre Śaṅkaras anhand ausgewählter Ausschnitte aus dem Film Ādi Śaṅkarācārya (1983).
Aus dem Film Ādi Śaṅkarācārya (1983) von Ganapathi Venkataramana Iyer (1917–2003) werden ausgewählte ausschnitte gezeigt und diskutiert.